Don‘t pray for us. We don‘t need no modern Jesus to roll with us. The only rule we need is never giving up. The only faith we have is faith in us.
Portugal. The Man – Modern Jesus
17. Juli 2134
Es ist so seltsam, das jetzt wirklich zu schreiben. Ich habe meine Zusage. Meine. Zusage. Nach all den Jahren des Hoffens, Bewerbens und Wartens – immer eine Mischung aus „Vielleicht diesmal“ und „Wahrscheinlich nicht“. Die Worte schimmern auf dem Bildschirm meines iPhones, klar und unmissverständlich: Ich werde auf den Mond ziehen.
Der Mond. 384.000 Kilometer entfernt von allem, was ich je gekannt habe. Oder, besser gesagt: 384.000 Kilometer entfernt von allem, wovor ich je entkommen wollte. Die Erde ist ein Chaos. Überall Smog, Schutt und Hitzewellen. Es gibt Tage, da fühlt sich sogar das Sonnenlicht feindselig an – Wie eine unerbittliche Erinnerung daran, dass sich auch dieser Planet von seiner feindseligsten Seite zeigt.
(…)
25. Juli 2134
Mein Fuß hat Mondboden berührt. Mein Kopf versucht hinterherzukommen.
Die Kolonie sieht aus wie ein futuristisches Modelldorf, das jemand in die unendliche Kargheit des Mondes fallen gelassen hat. Riesige Gebäude. Weiß, glatt, sauber. Fortschritt, das ist das richtige Wort. Alles hier schreit nach dem, was wir uns auf der Erde immer gewünscht haben: keine Fehler, keine Makel. Die Luft ist rein. Es ist, als hätte jemand die Idee von Perfektion genommen und sie einfach mal gebaut.
(…)
“I think it‘s very important to have a feedback loop, where you‘re constantly thinking about what you‘ve done and how you could be doing it better.” – Elon Musk
Heute bin ich durch eine der Kuppeln gelaufen und habe das gesehen, wovon ich schon gehört hatte: das Gemälde von Elon Musk. Es hängt mitten in einem Raum, der fast zu groß ist, als hätte man Angst gehabt, ihm nicht genug Platz zu geben. Er sieht darauf aus wie ein Prophet.
(…)
Was er durchmachen musste, kann ich mir kaum vorstellen. Wahrscheinlich haben sie ihn für einen Spinner gehalten. Aber jetzt stehen wir hier. Ich stehe hier. Auf dem Mond. Es fällt mir jetzt leichter, die Erde loszulassen, als ich dachte. Vielleicht, weil ich das Gefühl habe, dass wir hier oben etwas Größeres vor uns haben. Die Erde war am Ende auch nur ein Ballast für unseren Fortschritt.
4. August 2134
Mein Zimmer. Himmelblau an der Decke, perfekt aufgeräumt, so effizient, dass ich mich manchmal frage, ob ich es überhaupt verdient habe. Weißt du, wie es ist, in einem Raum zu sitzen, der besser durchdacht ist als du selbst?
Die blaue Decke – sie soll mich beruhigen, das ist klar. Das perfekte Blau. Nicht ganz das Blau, das ich von der Erde kenne, mit Wolken, die mal da sind und mal nicht. Kein Vogel, der durchzieht, kein Wind, der Wolkenfetzen zerreißt. Es ist ein bisschen schon wie ein schlechter Scherz: „Schau, so schön war’s mal. Aber das hier muss jetzt reichen.“ Und es reicht ja auch. Es ist viel besser als das, was ich auf der Erde hatte. Und trotzdem. Ich starre die Decke an und frage mich, warum sie überhaupt so blau ist.
(…)
Ich habe Luna gesagt, dass ich mich einsam fühle. Es ist schließlich genau das, was man hier macht. Du fühlst etwas, irgendwas, das ein bisschen zu laut oder zu schwer oder einfach zu viel ist, und du sagst es Luna, und Luna löst es. Heute war also mein erster „Kommunikationstermin“.
Der Raum war riesig. Wirklich riesig. Und hell. So hell, dass man beim Betreten fast instinktiv die Augen zusammenkneift. Wir standen in Paaren voreinander, wie Figuren in einem Schachspiel, das gerade erst angefangen hat.
Und dann ging es los. Zehn Minuten pro Gespräch. Ein Thema, vorgegeben von Luna. Mein erster Partner war okay. Ein Typ, Mitte zwanzig. Wir sollten über „persönliche Ziele in der Kolonie“ sprechen. Ich habe irgendwas gesagt, er hat genickt, gelächelt, und dann hat er irgendwas Ähnliches gesagt. Es war höflich. Es war nett. Nach zehn Minuten wechselten wir. Neues Gesicht, neues Thema. „Was schätzt du an deiner neuen Umgebung am meisten?“ Ich habe brav geantwortet, etwas über die Effizienz der Kolonie gesagt, darüber, wie alles hier funktioniert, wie alles Sinn macht. Mein neuer Partner hat genickt und zugestimmt. Natürlich hat er das. Es war höflich. Es war nett. Es war völlig belanglos.
2. September 2134
Heute habe ich plötzlich an einen Cheeseburger gedacht. Du weißt schon, das Ding, das du dir nach einem viel zu langen Tag kaufst. Das Ding, das in einer zerknitterten Papiertüte kommt, die schon durchweicht ist, bevor du überhaupt Zuhause bist. (…) Ich habe Luna nicht gefragt, ob sie mir einen Cheeseburger machen kann. Irgendwie glaube ich nicht, dass sie es verstehen würde.
Ich will einen Cheeseburger. Den, der nicht perfekt ist. Den, der dich danach bereuen lässt, aber auch für einen Moment glücklich macht. Alles ist so perfekt, dass ich mich nicht mal mehr danach fühle, einen Fehler machen zu dürfen. Und genau jetzt, in diesem Moment, will ich nichts mehr als einen großen, fettigen Fehler.
(…)
But I don‘t want comfort. I want God, I want poetry, I want real danger, I want freedom, I want goodness. I want sin.
Aldous Huxley – Brave New World
28. September 2134
(…)
Ich denke in letzter Zeit oft an die Erde. Die mit Fehlern. Die mit zu viel Regen oder zu wenig, mit Sommern, die zu heiß waren, und Menschen, die sich nie einig wurden. Aber gleichzeitig auch die Erde mit Nächten, die nach Grillkohle rochen und mit Sand zwischen den Zehen. Ich weiß, warum wir die Erde verlassen haben. Ich verstehe es. Aber immer öfter frage ich mich, ob wir nicht auch etwas hätten retten können, statt alles aufzugeben.
Ich dachte, es geht ums Überleben. Das war der große Plan, oder? Mit Fortschritt die Menschheit retten, ein neues Zuhause schaffen, in dem wir wieder aufatmen können. Vielleicht bin ich undankbar. Aber langsam frage ich mich, ob wir hier oben wirklich die Menschheit gerettet haben – oder ob wir nur eine andere Art von Sterben gewählt haben. Eine, die länger dauert und besser aussieht.
1. Oktober 2134
Die Pille liegt vor mir auf dem Tisch. So unscheinbar, dass sie fast unsichtbar ist. Ich habe keine Ahnung, woraus sie besteht, was in ihr steckt, was sie mit mir macht. Luna sagt, sie wird helfen. Sie hat immer eine Lösung, oder?
Es hat damit angefangen, dass sie mir heute Morgen diese Nachricht geschickt hat. Ganz sachlich, ganz freundlich, wie immer. Sie hat bemerkt, dass ich „emotional instabil“ bin, dass ich zweifle, dass ich nachdenke. Es klang nicht wie ein Vorwurf, nur wie eine Feststellung, die man über das Wetter macht. Und dann: der Vorschlag.
Die Pille. Eine einfache Lösung für ein kompliziertes Problem. Ich muss sie nur nehmen, sagt Luna. Sie wird die Sorgen wegmachen. Die Zweifel. Die Fragen. Alles, was mich daran hindert, das Leben hier zu genießen. Klingt großartig, oder? Aber natürlich sagt sie nicht, was sie genau nimmt. Die Sorgen, ja. Aber was noch? Erinnerungen? Gefühle? Die Erde? Mich?
Und trotzdem sitze ich hier und überlege, ob ich sie nehmen soll. Das macht mir fast mehr Angst als die Pille selbst. Wie kann es sein, dass ich überhaupt darüber nachdenke? Ich bin doch ich. Oder bin ich das schon nicht mehr?